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Erfolgsgeheimnis Operating-Model

Wie Unternehmen sich aus den Fesseln der Bürokratie befreien und zu erfolgreichen, zukunftsfähigen und humanen Organisationen werden
Published

20 January 2022

1. Bürokratie killt Kunden- und Mitarbeiternähe

Die Geschichte hat uns gelehrt, dass es für Organisationen wichtig ist, stabile, präzise und stringente Prozesse zu haben, um verlässliche Resultate erzielen zu können. Doch diese Überlegungen stammen aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, als Menschen als Produktionsmaschinen betrachtet und ihnen wenig eigenes Denken zugetraut wurde. Ausserdem tendieren Menschen dazu, an altbewährten Methoden festzuhalten.

In unserem Gedächtnis und in unseren Organisationen hat sich also der Bürokratiegedanke festgesetzt. Auf den ersten Blick scheint dies nicht weiter problematisch zu sein, doch muss sich die Organisationsform immer der Umwelt anpassen und nicht umgekehrt. Gerade in diesen volatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten Zeiten stellt sich die Frage, wie Unternehmen aussehen sollten, die besser auf die Zukunft vorbereitet sind, besser auf die heutigen Ansprüche von Mitarbeitenden eingehen können und daher langfristig erfolgreicher sein werden.

Viele Unternehmen und ihre frontnahen Funktionseinheiten sind zu bürokratisch. Zu diesem massgebenden Ergebnis gelangten Hamel und Zanini in ihren globalen Untersuchungen über Bürokratie. Sie entwickelten eine neue Messgrösse: den «Bureaucracy Mass Index» oder kurz«BMI».

Aus Ihren untersuchungen geht hervor, dass die meisten unternehmen einen zu grossen bürokratieapparat besitzen.

Mit diesem kann durch die Beantwortung von zehn Fragen das Mass an Bürokratie (gemessen auf einer Skala von 1 bis 100; 100 = höchster Grad an Bürokratie, 0 = niedrigster Grad an Bürokratie) für jedes Unternehmen ermittelt werden (Abbildung 1).

So geht im Schnitt ungefähr ein Viertel unserer Arbeitszeit für interne und externe Compliance drauf, ohne dass ein tatsächlicher ökonomischer Mehrwert geliefert oder ein Kundennutzen geschaffen wird. Erschreckend ist, dass Studien zeigen, dass die Bürokratie in Unternehmen jährlich steigt. Somit stellt sich die Frage, inwieweit Bürokratie eliminiert werden kann, um die Performance von Unternehmen zu steigern.

An diesem Punkt knüpft die Zusammenarbeit der Implement Consulting Group und der gfm an, welche zur Durchführung einer Studie in der Schweiz führte. Bei der Befragung von ca. 120 Sales- und Marketing-Experten haben wir u. a. den jeweiligen BMI des Unternehmens ermittelt, welcher den heutigen Bürokratiestand für Schweizer Unternehmen repräsentiert.

Bureaucracy Mass Index (BMI)


In ihrem Buch «Humanocracy» operationalisieren die Autoren Hamel und Zanini Bürokratie mit Hilfe der folgenden Elemente:

  1. Die Zahl organisatorischer Levels zwischen CEO/GF und frontnahen Organisations einheiten
  2. Der zeitliche Anteil bürokratischer Arbeiten wie Reports ausfüllen, Listen erstellen etc.
  3. Das Ausmass verlangsamter Entscheidungsfindungen durch bürokratische Abläufe
  4. Die Zahl von Besprechungen und Arbeitsvorbereitungen, die durch Vorgesetzte
    initiiert werden
  5. Autonomie, Distanz und mangelnde Zusammenarbeit frontnaher Organisationsein heiten untereinander
  6. Integration von Mitarbeitenden aus frontnahen Organisationseinheiten bei der Umsetzung praktischer Veränderungen
  7. Die Reaktion der Mitarbeitenden auf überraschende oder unkonventionelle Ideen: Enthusiasmus versus Widerstand
  8. Die Prozessabwicklung, um ein neues Projekt zu lancieren (v. a. Finanzierung eines kleinen Teams)
  9. Die Art des innenpolitischen Vorgehens, um einen Entscheid durchzusetzen
  10. Die Anforderungen an die politischen Fähigkeiten der Mitarbeitenden, um in der Organisation weiterzukommen

Quelle: Hamel/Zanini (2020): Humanocracy

ABB 1: Dimensionen von Bürokratie, die es zu bekämpfen gilt

Abb 2: Bureaucracy Mass Index von befragten Unternehmen in der Schweiz.

Gemessen auf einer Skala von 1 bis 100 ist der Medianwert von Unternehmen in der Schweiz mit 48 Punkten als mittelmässig bürokratisch zu bezeichnen. Wie der Grafik zu entnehmen ist, gibt es jedoch nur wenige Firmen, welche einen geringen BMI ausweisen und daher wenig bürokratische Arbeit praktizieren (blau), hingegen immer noch viele in hohem Masse bürokratisch organisierte Unternehmen (rot) (Abbildung 2).

Setzen wir den ermittelten BMI-Wert in Re lation zum wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen (Umsatz und Gewinnwachstum in den letzten fünf Jahren), so zeigt sich ein eindeutiges Ergebnis: Je geringer die Ausprägung der Bürokratie ist, desto grösser ist der wirtschaftliche Erfolg (Abbildung 3).

Vor allem aber sind sie treffsicherer im Erkennen von Kundenbedürfnissen und können die gewonnenen Erkenntnisse schneller und besser in Produkte und Dienstleistungen überführen. Im Umkehrschluss bedeutet dies wiederum, dass Bürokratie in hohem Masse die unternehmerische Performance von frontnahen Funktionen hemmt.

Unbürokratische Unternehmen wachsen also schneller als ihre Konkurrenten, gewinnen Marktanteile und sind profitabler.

Aufgrund dieser Ergebnisse stellen sich folgende Fragen, denen wir nachgehen:

  1. Welchen bürokratischen Stand haben Schweizer Unternehmen, und wo liegt deren grösstes Potenzial?
  2. In welchen Aspekten funktionieren erfolgreiche Unternehmen weniger bürokratisch
    als andere?
  3. Wie sieht ein Operating-Model aus, welches «fit for humans and fit for the future» macht?
  4. Wie gelingt die Transformation zum postbürokratischen Unternehmen?
Abb 3: Unbürokratische Unternehmen sind deutlich erfolgreicher als bürokratische.

2. Menschen setzen Potenziale frei


Was ist also zu tun?


Was müssen Unternehmen tun, um fit für die Zukunft zu sein? Vier scheinbar einfache, aber schwierig zu implementierenden Prinzipen müssen umgesetzt werden.



Nr. 1: Bedürfnisfokussiert


Die Forderung nach Fokussierung auf die Kunden ist ein allgemein akzeptiertes und selbstverständliches Prinzip. Doch die Ausrichtung der unternehmerischen Wertschöpfung auf neue Kundenbedürfnisse und Kundenerwartungen gestaltet sich schwierig – weil neue Bedürfnisse, Erwartungen oder Wünsche meist nicht sichtbar und den Kunden oft selbst nicht bewusst sind. Es geht darum, weit über das Profil bestehender Kunden hinaus «unmet needs» zu erfüllen und auch potenzielle Kunden frühzeitig zu erkennen und sie in alle kommerziellen Entscheidungen als Leitidee einfliessen zu lassen. 

Beispiel: Mit der konsequenten Ausrichtung auf die «pain points» der Benützer von Smart­phones (aber auch auf das Erlebnis in den Stores) gelang es Apple, etli che Konkurrenten für lange Zeit hinter sich zu lassen. Im Zentrum steht der Grund, warum jemand etwas tut (nicht das Was oder das Wie).

Mitarbeitende aus allen Bereichen, aber vor allem aus Innovation, Marketing und Sales, müssen nah am Kunden agieren und zudem durch eine nahtlos institutionalisierte Zusammenarbeit ihre Erkenntnisse und Erfahrungen austauschen. 

Beispiel: Haier nennt es «creating zero distance» zwischen den Mitarbeitenden und den Anwendern ihrer Haushaltsgeräte, was den Informationsfluss unumgänglich macht.

Also kann es hinsichtlich der Kunden nur eine einzige Messgrösse geben. Wenn das Produkt oder die Dienstleistung «weiterempfohlen» wird, kann man von echter Kundenzufriedenheit sprechen. Die konsequente Orientierung am Net Promoter Score (NPS)1 widerspiegelt diese Grundhaltung. Weil Erwartungen und Ansprüche von Kunden unterschiedlich sind, braucht es Flexibilität und Autonomie – und zwar genau dort, wo Kunden- und Produktentscheidungen getroffen werden.

Die Einhaltung bürokratischer Richtlinien, Vorschriften oder Regeln behindern Kundennähe. Prozesse sollten daher verstärkt auf den Kunden und dessen Bedürfnisse ausgerichtet sein. Der Goldstandard NPS ist eng verzahnt mit dem Performance-Management-System.

Beispiel: Der Goldstandard NPS wird unter anderem von California Closet als das massgebende Führungsinstrument verwendet. California Closet zeichnet sich dabei durch einen hohen NPS von 85+ aus und betrachtet diesen Wert als Ausgangs- und Referenzpunkt. 



Nr. 2: Agilitätsfähig


Organisationen sind sich der Notwendigkeit bewusst, sich zu verändern, zu transformieren, anders zu werden, um agil auf die Herausforderungen zu reagieren, die sie selbst als volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig (VUCA) erkennen. Die meisten Unternehmen wissen, dass in dieser VUCA-Welt ihre traditionelle Art und Weise, Geschäfte zu machen, durch neue Wettbewerber gestört und herausgefordert werden könnte – und noch mehr durch neue Bedürfnisse einer nächsten Generation von Kunden, die von anderen Wertvorstellungen, von der Begeisterung für technische Innovationen und einem neuen Anspruchsdenken inspiriert sind.

Die Unternehmensleitung muss das Bewusstsein für den permanenten Wandel systematisch fördern. Die Mitarbeitenden sollen Anpassung und Transformation nicht als Bedrohung empfinden, sondern als Lustprinzip unternehmerischen Handelns. Sie sollen auch vorbereitet sein, wenn das Neue kommt. Rita McGrath nennt es «seeing around corners». Eine grosse Zahl, also viele, können dabei mehr vorhersehen als nur einige wenige.

Gerade im Marketing, wo mittlerweile zwei Drittel «ohne uns» passiert, wir also die Kontrolle abgegeben haben, brauchen wir andere Wege. Zum Beispiel die Fähigkeit von Unternehmen, zu experimentieren.

Erfolgreiche Unternehmen haben gelernt, Unsicherheit und Unvorherseh­barkeit in ihre Firmenkultur zu integrieren. In iterativen und kreativen Prozessen mit intensiven Feedbacks zu Prototypen erweist sich Design-Thinking als geeignetes Instrument, um neue Lösungen zu entwickeln. Das Konzept hat sich in einer dynamischen Welt derart bewährt, dass es längst bei der Strategiearbeit, der Erarbeitung neuer Value-Propositions oder bei Anpassungen am Operating-Model eingesetzt wird. 

Beispiel: Pepsico hat schon vor einiger Zeit die Rolle des globalen Chief Design Officer eingeführt, dessen Aufgabe es ist, das umfassende Sortiment des gesamten Konzerns mit Prinzipien von Human-centered Design umzukrempeln. 



Nr. 3: Menschbezogen


Gerade mal 34 Prozent der Mitarbeiten- den bezeichnen sich als «motiviert» oder «nicht abgelöscht». Gleichzeitig scheitern 60 Prozent der Transformationsprojekte in Unternehmen. Sie werden zwar richtig erkannt, aber nicht erfolgreich durchgeführt und implementiert. Der Hauptgrund für beides ist zu einem grossen Teil das Ausmass der Bürokratie. Die innere Distanz gegenüber der Arbeit und ein entsprechend hoher Frustrationspegel lassen das Mitarbeiterengagement verkümmern.

Hingegen fördern maximale Eigenverantwortung, definierte (zweckmässige) Autonomie und inspirierende Freiräume die unternehmerischen Fähigkeiten der Mitarbeitenden und ihre Motivationskraft. 

Beispiel: Von Spotify können wir lernen, wie Autonomie und Verantwortlichkeit der Mitarbeitenden ausbalanciert werden sollten, wenn Kreativität und Engagement auf der einen Seite und Klarheit und Effizienz auf der anderen Seite gleichermassen zum Zuge kommen sollen.

Damit Unternehmen ihre Mitarbeitenden zu «Quellen des unternehmerischen Erfolgs» transformieren können, müssen diese in Bezug auf autonomes Handeln in Organisationen befähigt und ermutigt werden. 

Die Ausrichtung auf initiative Mitarbeitende beeinflusst auch die ängstlichen Kollegen: Unsichere Trödler werden früher oder später vom Biotop der eigenständigen Mitarbeitenden abgestossen und verlassen das Unternehmen. Die initi ativen Mitarbeitenden werden sich rasch auf die Bedürfnisse künftiger Kunden konzentrieren – und sie werden dies mit Freude tun, was wiederum die Kunden intuitiv spüren. Solche Mitarbeitenden müssen eng und unmittelbar mit den Value-Propositions konfrontiert werden, was wiederum ein agiles und flexibles Arbeitsumfeld verlangt. 

Beispiel: Zwischen dem Kunden-NPS (Weiterempfehlung für Kunden) und dem Employer-NPS (Weiterempfehlung als Arbeitgeber) besteht ein enger Zusammenhang. Unternehmen wie California Closet, Spotify und Netflix haben diese Erkenntnis in ihren Organisationen umgesetzt. 



Nr. 4: Ideenbasiert


Märkte sind besser in der Lage, Bedürfnisse und Ressourcen in Einklang zu bringen als eine zentrale Steuerung, z.B. durch das Topmanagement. Wenn Bereiche wie Marketing, Verkauf oder Customer-Service einem Wettbewerb mit externen Anbietern oder gleichartigen Einheiten innerhalb der Organisation ausgesetzt werden, resultieren oft bessere Ergebnisse. Ein Markt führt dazu, dass interne Abteilungen nur so lange erhalten bleiben, wie eine interne Nachfrage nach ihnen besteht. 

Beispiel: Bei Haier, dem weltweit grössten Unternehmen im Bereich Haushaltsgeräte, unterstützen untereinander in Konkurrenz stehende Marketing-, Sales-, Service- oder Designteams die 200 marktorientierten Teams. Der Wettbewerb sorgt dafür, dass immer wieder neue Teams mit immer besser an die Bedürfnisse angepassten Angeboten auf dem internen Markt bestehen.

Abb 4: Beispiele international erfolgreicher Unternehmen, die seit Jahren erfolgreich Bürokratie abgebaut haben.

Über die Unternehmensgrenze hinweg werden originelle Ideen unterschiedlicher Anbieter entwickelt, welche beispielsweise durch die Kombination verschiedener Technologien zu innovativen Lösungen führen können. Der Marktplatz braucht unterschiedliche Teilnehmer, die mit ihren verschiedenen Kompetenzen und Erfahrungen Technology-Convergence2 umsetzen können. Da treffen Kenner der Social Media auf Marketingspezialisten, Dataerfahrene Ingenieure auf TV-Profis, Finanzfachleute auf Marktforscher. In agilen Organisationen agieren Mitarbeitende in derartigen Ökosystemen, wo sie die «Marktplätze der Ideen» Tag für Tag inspirieren. 

Beispiel: Uber ist dafür ein markantes Beispiel, konnte sich das Unternehmen doch nur durch die Kombination von Google Maps, Kreditkarten und weiteren externen Funktionen am Markt etablieren.

Es hilft, innerhalb der Organisation «kollektive Intelligenz» zu nutzen, um insbesondere bei kritischen Problemen bessere Entscheidungen treffen zu können.

Beispiel:
Bei Körber Digital kann jeder Mitarbeitende eine neue Produktidee pitchen, und das ganze Unternehmen evaluiert sie und entscheidet dann über die Realisierung der neuen Businessideen. Die Forderung, «bürokratische Exzesse» abzubauen, greift also zu kurz, weil sie zu unpräzise ist. Es geht vielmehr darum, Unternehmen Bedürfnisfokussiert, Agilitätsfähig, Menschbezogen und Ideenbasiert auszurichten.

Obwohl dies allgemein akzeptierte Forderungen sind, zeichnet die Realität ein ganz anderes Bild. Man kann davon ausgehen, dass es unseren Organisationen Mühe bereitet, die an sich selbstverständlichen Prinzipien in ihre Organisationen zu integrieren, um mit ihnen sinnvolle Unternehmensziele zu erreichen. Nicht das Was, sondern das Wie ist also zur zentralen Herausforderung geworden.

3. Operating-Model schafft Voraussetzungen


So drängen sich die Fragen auf, wie eine zukunftsfähige Organisation aufgebaut sein, welche Ziele sie verfolgen und welche Prinzipien in ihr verankert sein sollten. Den Grundstein für die Beantwortung dieser Fragen legt ein Unternehmen mit dem Operating-Model (Abbildung 5) – also der Art und Weise, wie ein Unternehmen «funktioniert», um einen Mehrwert für Kunden und Mitarbeitende zu generieren. Prinzipien und «ways of working» sind dabei wichtiger als die Organisationsstruktur oder fixe Regeln. 

In Abbildung 4 sind einige Vorreiterunternehmen zu sehen, welche die zuvor besprochenen Prinzipien erkannt, verstanden und ihre Organisation entsprechend umgebaut haben. Daraus resultierte einerseits eine massive Reduktion an Bürokratie und gleichzeitig eine bemerkenswerte Steigerung der Performance. 

Der Fokus dieser Unternehmen lag dabei eben nicht primär auf dem finanziellen Erfolg. Den Unternehmen – es handelt sich um völlig unterschiedliche Firmen hinsichtlich Grösse, Unternehmenszyklus oder Branche – ist allerdings gemeinsam, dass sie ihre Art der Arbeit und ihren Umgang mit Mitarbeitenden – gerade in ihren kundennahen Funktionen – radikal verändert haben.

Wie gelingt die Reduktion von Bürokratie, und was erfordert sie?


 

Das postbürokratische Operating-Model


Ein postbürokratisches Operating-Model besteht aus sieben Gestaltungselementen, welche bei einer einwandfreien Abstimmung aufeinander ihre volle Wirkung entfalten können. Durch die Gestaltung der Elemente nach klaren Designprinzipien für postbürokratische Unternehmen erfüllen sie gleichermassen die Anforderungen neuer Marktverhältnisse sowie diejenigen anspruchsvoller Mitarbeitender. Im Folgenden werden die sieben Elemente vorgestellt und anhand konkreter Best-Practice-Cases illustriert.

Abb 5: Die sieben Elemente eines Operating-Models

Kernauftrag – jede(r) ist Eigentümer des Zwecks


Der Kernauftrag definiert den Zweck eines Unternehmens und somit die Antwort auf die Frage, welcher Mehrwert für welche Kunden bzw. anderweitigen Stakeholder erbracht wird. In klassischen Unternehmen werden der Unternehmenszweck und das zentrale Nutzenversprechen oft aus den höheren Rängen vorgegeben. Nicht nur verliert man mit diesem Top-down-Ansatz die Nähe zum Kunden, sondern meist leidet auch die Identifikation und Hingabe der Mitarbeitenden.

Anders als im klassischen Operating-Model werden in einem postbürokratischen Unternehmen jeder Person Autonomie und finanzielle Anreize gewährt, damit sie sich als Eigentümerin (Neudeutsch: «Owner») des Kernauftrags verstehen und entsprechend handeln kann.

Die zielgerichtete Arbeitsweise wird durch das Aufstellen von teamorientierten Erfolgsrechnungen sichergestellt. Diese sind an den Kernauftrag geknüpft, womit Teams die volle Verantwortung und Entscheidungsgewalt tragen.

Beispiel: In der Schweiz hat Spitex, eine Organisation der ambulanten Pflege und Hauswirtschaft, ihre Patienten- und Mitarbeiterzufriedenheit durch selbstverantwortliche Teams verbessert. Diese Teams haben jetzt einen Leistungsauftrag, eine Zieldefinition, die Verantwortung und die Kompetenz zur Auftragsausführung und Arbeitsplanung.



Prozesse – Experimentieren als Philosophie


Prozesse dienen der Standarisierung, von der Durchführung von Aufgaben und Abläufen über die Produkterstellung und Serviceerbringung bis hin zur Weiterentwicklung und Optimierung des Unternehmens. Die zugrunde liegende Prämisse besteht jedoch darin, dass das Umfeld bekannt und statisch ist, sodass eine standarisierte Planung sinnvoll erscheint.

In postbürokratischen Unternehmen haben Prozesse weiterhin einen Stellenwert. Sie werden aber so gestaltet, dass sie das Experimentieren mit neuen Herangehensweisen und Lösungsansätzen fördern. Somit können komplexe Probleme auf neue Art und Weise gelöst werden. Jedes Unternehmen hat so die Chance, sich selbst laufend neu zu erfinden.

Unternehmen, welche das Experimentieren für sich als Kernprozess definiert haben, gehen so weit, dass nicht der Plan oder der Business-Case über die Weiterverfolgung von Ideen oder Projekten entscheidet, sondern das erfolgreiche Experiment.

Beispiel: Die Bank of New Zealand verlieh ihren Filialen ein Höchstmass an Autonomie: Diese können ihre Öffnungszeiten regionalen Bedürfnissen anpassen (z. B. Filialen mit einem Skigebiet in der Nähe öffnen erst abends, andere, die in der Nähe eines Bauernmarkts liegen, am Sonntagmorgen). Die Nähe zu den Kunden inspirierte auch zu neuen Angeboten, z. B. einer mobilen Trailer-Bank. Aufgrund der Ideenvielfalt legte sich das anfängliche Misstrauen in der Bankzentrale rasch.



Governance – Entscheidungen nahe am Kunden und am Mitarbeitenden


Governance legt fest, wie und von wem Entscheidungen getroffen werden. In einer post­bürokratischen Organisation bedeutet dies, dass Entscheidungen nicht durch Rang oder politische Kompetenz geleitet werden sollen, sondern vielmehr durch Ta lent, Fähigkeiten und Leistungen des Individuums. Die Governance funktioniert damit im Sinne einer Meritokratie.

Konkret bedeutet dies, dass die Entscheidungsbefähigung eines Mitarbeitenden immer im
thematischen Kontext betrachtet werden sollte. So könnte die Kompetenz- und Leistungs­bewertung eines Kollegen deutlich höher sein als die eines vormaligen Kadermitglieds. Diese Einstufung der Entscheidungsbefähigung findet auf der Basis von Peer-Reviews statt und ist für alle Mitarbeitenden transparent.

Beispiel: Mit der Einführung des Systems «Responsabilisation» nimmt die Michelin Gruppe ihre Mitarbeitenden in die Pflicht, indem sie Entscheidungen auf Mitarbeiterebene ermöglicht, Strategieentscheidungen bleiben hingegen auf Konzernebene. Seither stieg Michelin in der globalen Reifenindustrie von Platz 20 auf Platz 1 auf.



Struktur – kleine, kompetente, kundennahe und befähigte Teams


Die Struktur definiert die Funktionen und die Rollen sowie die Aufteilung von Aufga ben und Verantwortung in der Organisation. In postbürokratischen Unternehmen rücken die Bedürfnisse des Kunden noch stärker in den Vordergrund. Kleine, autonome Teams, die komplexe Entscheidungen in Echtzeit nahe am Kunden treffen, können ein besseres Verständnis für die Kundenbedürfnisse gewinnen.

Beispiel: Nuuday, die Front-End-Organisation der dänischen Telekomfirma TDC mit einer Vielzahl von Consumer-Brands, vereinfachte ihre Organisation, indem sie die Hierarchieebenen von fünf auf drei reduzierte, dafür 200 End-to-End-Teams bildete, die für einen Grossteil der Customer-Journey verantwortlich sind – von der Bestellung aus dem Internet bis zur Installation zu Hause.

Die Organisation ist damit kundennäher geworden und erzielt regelmässig einen sehr hohen NPS von über 30; Nuuday gilt in Dänemark als einer der beliebtesten Arbeitgeber.



Fähigkeiten – Neugierde und Offenheit als höchstes Gut


Fähigkeiten beziehen sich auf die Kompetenzen, die eine Organisation entwickeln muss, um den Bedürfnissen der Kunden gerecht zu werden und um gegenüber der Konkurrenz herauszustechen. In einer modernen und unbürokratischen Organisation werden Neugierde und Offenheit als Kernkompetenzen gefeiert, die nötig sind, um brillante Ideen zu entwickeln und umzusetzen.

Somit werden abweichende Meinungen nicht nur toleriert, sondern ganz gezielt gefördert.

Beispiel: W. L. Gore & Associates folgt als «Gitterorganisation» den vier Leitprinzipien Fairness, Freiheit, Selbstverpflichtung und «Wasserlinie». Das Prinzip «Wasserlinie» fordert dazu auf, viele Beteiligte einzubeziehen, bevor eine Entscheidung getroffen wird, die metaphorisch «unter die Wasserlinie unseres Schiffes schiessen würde».



Kultur – ohne psychologische Sicherheit und Vertrauen geht es nicht


Die Kultur ist der Leitkompass einer Organisation und basiert auf einem geteilten Muster des Denkens, Fühlens und Han delns. In einem postbürokratischen Unternehmen ist die Kultur neben dem Kunden das höchste Gut und fördert eine vertrauensvolle Beziehung zwischen den Mitarbeitenden. Sie fördert Akzeptanz und Sicherheit und somit den Freiraum, das «Ich» voll zu entfalten und sich in das Arbeitsumfeld einzubringen.

Beispiel: Netflix zeigt deutlich die Bedeutung eines gemeinsamen Mindsets: Werte wie der Wille, Wirkung zu erzielen, vorurteilslose Neugierde, Begeisterungsfähigkeit und Ehrlichkeit haben in der Selbsteinschätzung von Netflix wesentlich zu einer gemeinsamen Haltung und damit zur überragenden Performance beigetragen.



Technologie – automatisierte Bürokratie und Autonomie durch digitale Systeme und Prozesse


Spätestens seit Beginn der Pandemie ist Organisationen und Mitarbeitenden die Wichtigkeit der Digitalisierung bewusst. Digitale Systeme und Prozesse schaffen es, die administrativen Aufgaben durch Übernahme von Routineaufgaben auf ein Minimum zu senken. Dies führt dazu, dass Mitarbeitende sich auf kreative und anspruchsvolle Aufgaben fokussieren und Unternehmensentwicklung und Kundenbedürfnisse mit Hilfe der geschaffenen Transparenz besser angesteuert werden können.

Beispiel: Die Belgian FPS Social Security legt einen starken Fokus auf die Lieferung von Ergebnissen und nicht auf die tatsächlich im Büro verbrachte Zeit. Durch die Digitalisierung von Systemen und Prozessen wurden Remote-Arbeit und Mitarbeiterautonomie ermöglicht. Schrittweise entwickelte sich die ehemals unbeliebte Arbeitgeberin zur Organisation mit den niedrigsten Fehlzeitenquoten.

4. Top-Performer zeigen den Weg


Steckbrief der gfm-Studie (2021)


Bei der Schweizer Umfrage wurden vom 24. bis 31. März 2021 ca. 120 Marketing- und Sales-Experten nach ihrem betriebswirtschaftlichen Erfolg, der Unternehmensbürokratie und den Parametern des Operating-Models befragt. Neben der Darstellung des heutigen Ist-Zustan- des liegt unser Augenmerk insbesondere auf dem Potenzial und der Diskrepanz zwischen erfolgreichen und erfolgslosen Unternehmen hinsichtlich ihres Operating-Models.

Dazu wurden die folgenden wesentlichen Parameter gemessen:

  • Erfolgsscore: Der Erfolg der Unternehmen wurde anhand von Fragen zum Umsatz- und Gewinnwachstum gemessen. Um den aktuellen Stand und eine geeignete Einteilung vornehmen zu können, wurden die Ent wicklung der letzten fünf Jahre sowie der Branchenbenchmark in Betracht gezogen. Aus unserer Stichprobe ergab sich eine Einteilung in Low- (n = 16), Average- (n = 49) und High-Performer (n = 49).

  • Operating-Model-Exzellenz: Die Operating-Model-Exzellenz ist eine Vergleichsgrösse zwischen den vorherrschenden Arbeitspraktiken in der Vertriebs- und Marketingorganisation und dem idealen post­bürokratischen Operating-Model. Dazu wurden 15 treffende Fragen formuliert und die Antworten auf einer Zehnerskala gemessen (1 = stimmt gar nicht mit dem Target-Operating-Model überein; 10 = entspricht dem Target-Operating-Model).

  • Bureaucracy Mass Index (BMI): Der BMI wurde nach Hamel und Zanini mit Hilfe der zehn von ihnen aufgestellten Fragen ermittelt (siehe Abbildung 1).

    Der Fokus der Studie liegt auf dem Vergleich der Operating-Model-Exzellenz von Low- und High-Performern.

Abb 6: Operating-Model-Exzellenz von Low- und High-Performern

In unserem empirischen Teil der Studie wollen wir die Zusammenhänge zwischen Erfolg, Bürokratie und Operating-Model-Exzellenz zeigen und dabei insbesondere auf die genutzten und ungenutzten Potenziale für Unternehmen eingehen.



Resultate:


Was machen erfolgreiche Unternehmen anders?

Durch die Messung der Operating-Model-Exzellenz können zwei wichtige Erkenntnisse gezeigt bzw. bewiesen werden. Einerseits ist aus der Abbildung 7 deutlich zu erkennen, dass sich Low- und High-Per former in fast allen Kriterien deutlich unterscheiden. Dabei tendieren High-Performer bei allen Kriterien zu einer deutlicheren Ausprägung eines postbürokratischen Operating-Models. Dies zeigt aus unse rer Sicht deutlich die Vorteilhaftigkeit des postbürokratischen Operating-Models.

Andererseits kann man der empirischen Forschung entnehmen, dass auch High-Performer noch ein deutliches Verbesserungs- bzw. Erfolgspotenzial aufweisen. Während die Bewertung der Operating-Model-Exzellenz bei Low-Performern im Durchschnitt bei 5,3 liegt, haben auch High-Performer mit einem Durchschnittswert von 6,7 noch Luft nach oben.

Im Detail zeigt sich, was Top-Performer besser machen als Low-Performer:



Informationsfluss


Der Informationsfluss zwischen den relevanten kommerziellen Abteilungen (Produkt­management, Kundendienst, Marketing, Vertrieb) funktioniert reibungslos und zügig. Silos werden so weit wie möglich vermieden und zugunsten des gemeinsamen Ziels der Kundenzufriedenheit verringert.



Experimentieren


Feedbacks von Kunden, Partnern oder Mitarbeitenden werden systematisch und methodisch eingeholt, ausgewertet und iterativ in einem ständigen Verbesserungsprozess verarbeitet. Growth-Hacking, Design-Thinking und dergleichen sind weit verbreitet. Das Operating-Model ist nicht auf Verwaltung, sondern auf permanente Verbesserung aller Elemente ausgelegt.



Karriereaussichten


Der Beitrag des einzelnen Marketing-/ Vertriebsmitarbeitenden führt zu besseren Karriereaussichten – Unternehmenspolitik und reine Zahlenoptimierung sind nachrangig. Energie und Motivation der Mitarbeitenden werden nicht auf die Karriereoptimierung verschwendet, sondern in wertstiftende Vorhaben geleitet.



Team-Incentivierung


Im Vertrieb werden die Mitarbeitenden als Team incentiviert – Einzelkämpfertum führt zur Selbstoptimierung, und dabei geraten die Kundenbedürfnisse ins Hintertreffen. Top-Performer wägen sorgfältig zwischen individuellen kurzfristigen Finanzzielen und langfristigen Unternehmenszielen ab. 

Auch in den darüber hinaus gemessenen elf Kriterien zeichnen sich die Top-Performer durch bessere Kommunikation, Kollaboration und Agilität sowie mehr Pragmatismus aus.m.




5. Führung von oben und unten initiiert die Transformation


Die Anforderungen an eine zukunftsfähige Organisation scheinen hoch zu sein, entsprechend dürften viele Unternehmen Respekt haben vor einer (weiteren) grossen Transformation. Die folgenden Gedanken sollten dazu ermutigen, die Reise dennoch in Angriff zu nehmen und damit einige der beschriebenen Vorteile zu erschliessen.

Die Transformation ist eher als Movement zu verstehen und zu kreieren. Damit meinen wir: klein anfangen, Momentum aufbauen und fortlaufend kleine Erfolge erzielen.

Erfahrungsgemäss ist das Vorhaben gleichzeitig top-down und bottom-up anzugehen.

Ohne top-down geht es nicht: In mindestens dreifacher Hinsicht erfordert ein Movement auch eine minimale zentrale Steuerung:

  1. Eine gemeinsame Ambition zum Ziel und zur Reise entwickeln (häufig Northstar genannt). Betonung des Warums – wieso sind diese Ambition und Reise wichtig und richtig für jeden?
  2. Das Leadership-Team hinter diese Ambition bringen und sicherstellen, dass es den eingeschlagenen Weg jederzeit «verteidigt»
  3. Gegebenenfalls ein neues Führungsverständnis etablieren

Die Kraft der Bewegung wird bottom-up entwickelt. Dabei geht es um Folgendes:

  • «Feuerchen»/Initiativen innerhalb der Organisation identifizieren und starten, um mittel- bis langfristig einen Flächenbrand zu erzeugen
  • Best Practices aus den unterschiedlichen Abteilungen und Teams übernehmen
  • Skalierung der Initiativen durch das Leadership-Team unterstützen. Movement in Gang bringen, indem Feuerchen grösser und erfolgreich gemacht werden und an anderen Stellen in der Organisation eingepflanzt und weitergetrieben werden («start small, scale fast») 


Um Klarheit über den Ausgangspunkt der Reise zu gewinnen, hat es sich bewährt, ein Assessment der Organisation durchzuführen. Häufig stellt das Management erstaunt fest, an wie vielen Orten in ihrer Organisation bereits kleine Feuerchen brennen, die es nun gilt, weiter mit Sauerstoff zu versorgen und sich ausbreiten zu lassen. Für das Assessment eignet sich beispielsweise das hier vorgestellte Instrument des BMI, weil es eine sehr einfache Diskussion in Gang bringt. Mutigere Unternehmen starten mit einem Management-Model-Hackathon oder einer Aktion, um ihren Projekt- und Veränderungsmotor zu «entgiften».


Jeder Versuch, eine Initiative in Richtung postbürokratisches Unternehmen zu starten, sollte unterstützt werden. Die Resultate auf allen Ebenen zeigen, dass sich die Reise lohnen wird.

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